Um hier wieder mehr dem Thema "Glauben" gerecht zu werden, könnte möglicherweise Folgendes als Ergänzung dienen:
Kindlich glauben – mündig glauben Eine Lesepredigt von Thomas Stil Lesung: Lk 18,15-17 + 1 Kor 3,1-3
Ehrlich gesagt ist mir dieser ‚Widerspruch‘, diese Spannung oder Entgegensetzung – wie auch immer man das nennen das möchte – bisher gar nicht so aufgefallen. Jesus ermahnt uns in Lk 18,15-17: Das Reich Gottes muss man annehmen wie ein Kind, sonst kommt man nicht hinein. Gott und seinem Reich gegenüber muss man also die Haltung eines Kindes einnehmen. Soll heißen: Wir sollen kindlich glauben. Der Apostel Paulus hingegen beklagt sich über die Korinther in 1 Kor 3,1-13: Ihr seid wie unmündige Kinder. „Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht feste Speise; denn ihr konntet sie noch nicht vertragen“, schreibt Paulus. Die Korinther waren geistlich so sehr Kinder, dass sie noch keine schwere geistliche Kost, also in die Tiefe gehende Lehre, vertragen haben.
Ja, aber was stimmt denn nun? Wie sollen wir geistlich sein? Kinder oder eben nicht Kinder? Widersprechen sich etwa Jesus und Paulus? Nein, ich glaube nicht, dass sich Jesus und Paulus hier widersprechen. Aber es ist doch irgendwie interessant: Der eine betont stark das Kindliche am Glauben – der andere betont stärker das Mündigwerden, das Erwachsen werden im Glauben. Der Befund im Neuen Testament ist aber tatsächlich so: Die Betonung von Jesus, dass wir das Reich Gottes wie ein Kind annehmen sollen, gewissermaßen kindlich glauben sollen – diese Betonung finden wir nur bei Jesus. Nur im 1. Petrusbrief findet sich nochmal ein positives Bild, eine positive Metapher vom Kind, die auf den Gläubigen übertragen wird. Da heißt es: „So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie wachset zum Heil.“ (1 Petr 2,1f.) Petrus vergleicht die Gläubigen hier nicht nur mit Kindern, sondern sogar mit Babys: Wie Babys sollen die Christen sein, begierig nach der Milch, begierig nach dem Wort Gottes. Aber auch bei Petrus ist das Ziel: Dass man wächst und erwachsen wird. Und das ist auch die allgemeine Tendenz der gesamten Briefliteratur im Neuen Testament: Paulus und alle anderen Briefautoren betonen eben dies, dass man als Christ mündig, erwachsen werden soll, nicht kindisch, nicht fleischlich bleiben darf. Man könnte es vielleicht so auf den Punkt bringen: Wir werden im Neuen Testament – einmal von Jesus und dann von den Aposteln – zu zwei verschiedenen Arten und Weisen des Glaubens aufgefordert: Kindlich glauben – und mündig glauben. Vor Gott Kind bleiben – und mit Gott reifer werden. Das Reich Gottes annehmen wie ein Kind – und zugleich immer mehr wachsen, ja, in das Reich Gottes hineinwachsen.
Was könnte das aber nun bedeuten: Kindlich glauben? Und was könnte es bedeuten: Mündig glauben? Überlegen wir einmal wie Kinder sind, wie wir Kinder erleben. Gewiss, es gibt ja ganz unterschiedliche Kinder, aber ein paar typische Verhaltensweisen bei Kindern und Kleinkindern gibt es schon, würde ich sagen. Eine typische Verhaltensweise ist: Kinder nehmen sich einfach das, was sie wollen. Sie nehmen sich die besten Spielzeuge, auch wenn sie eigentlich jemand anderem gehören. Sie nehmen sich die Süßigkeiten, wenn sie offen rumliegen. Sie wägen nicht ab, im Sinne von: Brauche ich das jetzt wirklich? Ist das überhaupt gesund? Schade ich damit jemandem? Und zudem kommt: Sie nehmen sich nicht nur, was sie wollen – sondern haben häufig auch nie genug davon.
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Und wenn man einmal Kinder beobachtet wie sie ihre Lieblingsspeise essen oder auch ihr Lieblingsspiel spielen – sie können es einfach richtig genießen. Ihre Genussfähigkeit ist, wenn man das so sagen will, noch völlig intakt, ganz rein und tief. Sie können Dinge wirklich genießen, leben im Moment, erleben diesen einen Moment intensiv. Und eine letzte Beobachtung: Bei allen drei genannten typischen Verhaltensweisen bei Kindern – sie nehmen sich einfach, was sie wollen; wollen immer mehr haben, kennen kein genug; Genussfähigkeit – schwingt aber dennoch unbewusst das Gefühl, die Ahnung mit: Ich bin abhängig. Ich bin abhängig von meinen Eltern. Ich bin abhängig von der Gunst anderer.
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Nun, könnte man diese Beobachtungen, diese Erkenntnisse auf den Satz von Jesus übertragen: „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, der kommt nicht hinein“? Ich denke schon, dass das geht. Ich versuche mal zu beschreiben, wo die Parallelen liegen könnten: Wenn einem Kind etwas gefällt – ein Spielzeug, eine Süßigkeit – dann zögert es nicht lange, wägt nicht ab, schläft nicht nochmal eine Nacht drüber, sondern: Es greift zu, es will es jetzt, es zweifelt nicht, zögert nicht. Genau so sollten wir wohl auch dem Reich Gottes gegenüber, ja, Gott gegenüber sein: Wenn uns aufgegangen ist, wie kostbar, wie schön, wie gut Gottes neue Welt ist, wenn uns die Augen geöffnet wurden für die Wirklichkeit Gottes – dann sollten wir nicht lange zögern, sondern zugreifen:
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Wir denken, zerdenken am liebsten alles und sehr lange, bevor wir uns für etwas entscheiden. Aber dabei wissen wir wie gut es auch tut, sich einfach mal zu entscheiden, spontan zu sein, nicht immer alles abzuwägen. Wir werden wahrscheinlich immer einen Grund finden, warum wir uns nicht völlig auf Gott, auf das Reich Gottes einlassen wollen: Ist mir zu unsicher, ist mir zu anstrengend, das stellt mich in Frage … So sind wir eben, die Erwachsenen. Deswegen sagt ja Jesus: Dem Reich Gottes gegenüber müssen wir wie Kinder werden, dieses Geschenk einfach annehmen, es geschehen lassen. Aber dabei sollten wir nicht stehen bleiben: Kinder wollen immer mehr von dem, was ihnen gefällt.
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Gott und sein Reich wollen mich und mein Leben ganz durchdringen … und wenn Gott mich und mein Leben ganz durchdringt, geht mir immer mehr auf: Wie abhängig ich von ihm bin. Dass ich überhaupt nichts zustande bringen könnte ohne Gottes Gnade und Gunst. Und so komme ich immer mehr hinein in diese Haltung des Empfangens Gott gegenüber: Ich erwarte alles von ihm. Ich vertraue ihm. Ich muss mich nicht sorgen, denn er sorgt sich um mich. So würde ich beschreiben, was ‚kindlich glauben‘ bedeutet. Die Apostel in den Briefen ermahnen uns nun aber: Wir sollen nicht unmündig bleiben, sondern immer mündiger werden, keine Kinder bleiben, sondern reife Menschen werden. Wie passt das nun zu dem, was ich gerade über den kindlichen Glauben ausgeführt habe? Man sollte hier eine Unterscheidung einführen: Ja, Jesus ruft uns dazu auf, kindlich zu glauben. Aber Jesus ruft uns nicht dazu auf, kindisch zu glauben. Kindlich glauben und kindisch glauben ist nicht dasselbe, sondern unterscheiden sich enorm. Denn es gibt ja auch typische Eigenschaften und Verhaltensweisen von Kindern und allgemein von heranwachsenden Menschen, die gewissermaßen in Ordnung sind in einem bestimmten Alter; aber die man dann, wenn man älter wird, nach und nach ablegen, aus diesen herauswachsen sollte.
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Ein erwachsener Mensch sieht nicht nur schwarz und weiß, sondern auch die Grautöne. Ein erwachsener Mensch muss nicht mehr alles vereinfachen, vereindeutigen, damit er die Welt versteht, sondern kann auch zugeben, dass man die Welt nie völlig verstehen kann. Und ein erwachsener, reifer Mensch weiß auch: Es gibt nicht die immer nur guten und die immer nur bösen Menschen; jeder Mensch hat beides in sich und manchmal kann er nicht mal etwas dafür, wenn sich stärker das Gute oder das Böse im Leben durchbricht …
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Ich würde sagen, ein Mensch, der schon länger mit Jesus unterwegs ist, der schon das eine oder andere vom Glauben verstanden hat, bei dem müssen sich Anzeichen von einer gewisse Reife, ja, Wachstumsanzeichen bemerkbar machen. Man könnte gewiss sehr viel über das Thema Mündig-Glauben sagen, aber ich beschränke mich jetzt mal eben auf dieses eine: Ich behaupte, dass ein reifer Mensch und auch ein geistlich reifer Mensch davon wegkommt, in starken Extremen zu denken und in starken Extremen zu glauben.
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Weiterhin würde ich behaupten, dass ein reiferer Christ ein barmherziger Christ ist: Ein reifer Christ pflegt einen barmherzigen Umgang mit Sünden, mit Fehlern und auch Zweifeln.
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Wer im Glauben gewachsen ist, der weiß: Nicht die Sünde hat das letzte Worte, sondern die Vergebung und die Barmherzigkeit Gottes. Deswegen kann man auch barmherziger mit sich selbst und seinem Mitmenschen umgehen …
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Fassen wir mal zusammen: Das Neue Testament, genauer Jesus und Paulus, rufen uns dazu auf sowohl kindlich zu glauben als auch mündig zu glauben. Es ist schon eine gewisse Herausforderung, beidem gleichzeitig gerecht zu werden. Es gibt einerseits die Gefahr, im Kindlichen bzw. Kindischen hängen zu bleiben und sich nicht weiterzuentwickeln.
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Andererseits gibt es auch die Gefahr im geistlichen Leben, das Kindliche, das Spontane und das „Herzensfromme“ ganz abzulegen, es für Kinderei und Naivität zu halten – und sich nur noch auf das Vernünftige, auf theologische Erkenntnis zu konzentrieren und dabei zu meinen, man sei jetzt sehr erwachsen und mündig. Diese beiden Gefahren, die ich genannt habe, sind Gefahren der Einseitigkeit. Unser Glaube an Gott, wie er uns im Neuen Testament begegnet, hat aber nun mal diese zwei Seiten, die sich für uns manchmal als spannungsvoll erweisen: Einmal das Kindliche, das Herzliche, der Aspekt des Vertrauens und der Liebe. Und dann das zu Entwickelnde, das Mündig-Werden, der Aspekt des Denkens und der Erkenntnis. Manche von uns müssen in ihrem Glauben wieder kindlicher, herzlicher werden. Andere sollten sich in gewissen Aspekten weiterentwickeln und sich um einen Entwicklungsfortschritt mühen.
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Vor Gott sind wir nicht die Erwachsenen mit viel Berufserfahrung, akademischen Abschlüssen oder sonstigem, worauf wir uns vielleicht etwas einbilden. Vor Gott sind und bleiben wir Kinder, bedürftige Wesen. Wir bleiben immer Kinder Gottes, werden nie Erwachsene Gottes. Besonders wenn wir uns im Gebet an Gott wenden, tun wir das als Kinder, da betet das „innere Kind“ wenn man so will. Denn so hat ja auch Jesus beigebracht zu beten: Unser Vater im Himmel … Er der Vater, wir seine Kinder. Vielleicht hilft Ihnen das Bild vom „inneren Kind“ nicht zu vergessen, welche Haltung wir immer wieder einnehmen müssen, um das Reich Gottes zu empfangen. Amen.