Umso erstaunlicher, dass es immer wieder Menschen wie Lance Armstrong gibt, die im Rückblick ihre schrecklichsten Erfahrungen nicht nur als Verlust, sondern auch als Bereicherung sehen. In den 1990er Jahren stießen mehrere Forscherteams unabhängig voneinander auf solche Berichte. Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun, US-amerikanische Psychologen von der University of North Carolina at Charlotte, tauften das Phänomen damals »posttraumatisches Wachstum«. Menschen mit unterschiedlichsten Verlusterfahrungen glauben, dass sie durch die Auseinandersetzung mit dem Erlebten ein tieferes Verständnis von sich selbst und dem Leben im Ganzen gewonnen haben.
Bei diesen Erfahrungen handelt es sich nicht etwa um kleine Rückschläge, sondern um Erlebnisse, die so schwer wiegend sind, dass sie in der Psychologie als Trauma gelten. Zu den potenziell traumatischen Ereignissen gehören zum Beispiel gewaltsame Übergriffe, Vergewaltigungen, Entführungen, Geiselnahmen, Krieg oder Folter. Aber auch schwere Autounfälle, risikoreiche Geburten oder der Moment, in dem man von einer lebensbedrohlichen Diagnose erfährt, können traumatisch sein. Traumatische Ereignisse sind also solche, bei denen die körperliche oder die seelische Unversehrtheit bedroht ist. Gemeinsam haben sie, dass nahezu jeder Mensch währenddessen extreme Angst oder Verzweiflung empfinden würde. Doch nicht nur dann, wenn wir selbst in solche Situationen geraten, hinterlässt das Spuren. Auch das Miterleben von schwerer Gewalt gegenüber einer anderen Person oder die Nachricht vom Tod des eigenen Kindes oder einer sonstigen nahestehenden Person kann traumatisch sein.
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Dabei sind jene, die glauben, an ihrem Trauma gereift zu sein, selten frei von Symptomen. Schmerz und Reifung können nebeneinander existieren. »Interessanterweise berichten gerade diejenigen, die schwer erschüttert sind, später eher von posttraumatischem Wachstum«, sagt Judith Mangelsdorf, Professorin für Positive Psychologie an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport und Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie. »Die psychische Erschütterung ist eine Voraussetzung dafür. Offenbar muss das Weltbild der Betroffenen ausreichend ins Wanken geraten, damit sie ein neues und stabileres aufbauen können.«
Laut einer etablierten Theorie spielt die Erschütterung der Grundannahmen über sich und die Welt eine zentrale Rolle dabei, dass posttraumatisches Wachstum entstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, das Leben sei immer fair. Menschen, die Schlimmes erfahren haben, berichten anschließend häufig, fremdes Leid besser nachvollziehen zu können und nun mehr Empathie mit anderen zu haben. Teils sind es also gesunde, aber naive Vorstellungen, die dem Trauma zum Opfer fallen und womöglich Platz für eine differenziertere, vielleicht auch weisere Haltung zum Leben schaffen.
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Um allerdings die Frage beantworten zu können, ob ich heute beispielsweise tiefere Freundschaften habe als vor meinem Autounfall, muss ich mir nicht nur klarmachen, wie es jetzt um meine Beziehungen steht, sondern auch richtig einschätzen, wie sie vor dem Ereignis waren. Solche Selbsteinschätzungen auf Basis vager Erinnerungen sind fehleranfällig. »Das ist tatsächlich ein methodisches Problem. Wir können traumatische Ereignisse nicht vorhersehen und schon gar nicht im Labor herstellen, um die Betroffenen vorher und nachher zu untersuchen«, sagt Judith Mangelsdorf. Gemeinsam mit zwei Kollegen durchforstete sie daher die psychologische Forschung nach geeigneten Längsschnittstudien, für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Menschen zu anderen Zwecken über Jahre begleitet hatten. Die Teilnehmer dieser Längsschnittstudien sind natürlich nicht vor Schicksalsschlägen gefeit. Und so bergen solche Daten die Chance, den Zustand eines Menschen vor und nach einem solchen Ereignis zu vergleichen – sei es ein Autounfall, eine Krebserkrankung oder der Tod des Partners.
Das Ergebnis der ebenfalls 2019 erschienenen Metaanalyse: Nach einem einschneidenden Erlebnis egal welcher Art (siehe »Wachstum durch Glücksfälle«) hatten sich die Untersuchten in den Bereichen Selbstbewusstsein und positive Beziehungen teils stark verbessert. Ebenso hatte ihr Gefühl zugenommen, im eigenen Leben die Zügel in der Hand zu haben. »Der Effekt hielt oft noch Jahre nach dem Ereignis an«, erklärt Judith Mangelsdorf.
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Braucht es für Wachstum wirklich Leid? Oder kann man auch ohne Schicksalsschläge ein reifer Mensch werden? Dafür spricht eine 2019 erschienene Metaanalyse von 122 Längsschnittstudien, die die persönliche Entwicklung von fast 100 000 Menschen über Jahre erfasst haben. Das Ergebnis deutet darauf hin, dass nicht nur Unglücke, sondern genauso auch große Glücksfälle das persönliche Wachstum anregen und zu einem höheren Selbstwertgefühl, engeren Beziehungen und einem Gefühl von Selbstbestimmung führen könnten. Überwältigend positive Lebensereignisse, etwa die eigene Berufung zu finden, sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen, die große Liebe zu heiraten oder das erste Kind zu bekommen, lassen Menschen demnach in ähnlicher Weise reifen wie schwere Rückschläge. Analog zum posttraumatischen Wachstum heißt dieses Phänomen postekstatisches Wachstum. Um zu bestätigen, dass das Wachstum wirklich auf das jeweilige Lebensereignis zurückgeht und nicht auf allgemeine Einflüsse wie Alter und Lebenserfahrung, sind aber noch mehr Studien nötig – mit einer Vergleichsgruppe ohne einschneidende Erfahrungen im selben Zeitraum.
https://www.spektrum.de/news/was-sagt-die-forschung-zu-posttraumatischem-wachstum/2202398