Prof. Glenn Dieser hat geschrieben:Die politische Klasse, die nach dem Kalten Krieg in Europa entstand, hat sich zunehmend einer übermäßigen Ideologisierung verschrieben und nutzt Narrative, um neue soziale Realitäten zu konstruieren. Die europäische Hinwendung zur Postmoderne bringt eine grundlegende Infragestellung der Existenz objektiver Realität mit sich, denn unser Verständnis von Wirklichkeit wird durch Sprache, Kultur und spezifische historische Perspektiven geprägt. Postmodernisten versuchen daher häufig, Narrative und Sprache als Quelle politischer Macht zu verändern. Wenn Realität als soziales Konstrukt gilt, können große Narrative wichtiger werden als Fakten. Tatsächlich müssen ideologische Narrative vor unbequemen Fakten geschützt werden.
Das europäische Projekt verfolgte ursprünglich die wohlwollende Absicht, eine gemeinsame liberal-demokratische europäische Identität zu schaffen, um die spaltenden nationalen Rivalitäten und Machtkämpfe der Vergangenheit zu überwinden. Dabei wurde jedoch zunehmend die Relevanz objektiver Realität infrage gestellt. Narrative über die Realität gelten nun als Spiegel von Machtstrukturen, die dekonstruiert und neu organisiert werden können.
Die Verbreitung des Konstruktivismus und die Betonung des „Sprechakts“ innerhalb der EU führten zur Überzeugung, dass selbst realistische Analysen oder Debatten über konkurrierende nationale Interessen als Legitimierung der Realpolitik verstanden werden – und somit als Konstruktion einer gefährlicheren Realität. Der „Sprechakt“ bezieht sich auf den Einsatz von Sprache als Machtmittel, mit dem politische Realitäten geschaffen und Ergebnisse beeinflusst werden können. Durch eine geringere Fokussierung auf sicherheitspolitische Debatten wird angenommen, dass Machtpolitik abgeschwächt werden könne.
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Die Diplomatie steht im Widerspruch zum konstruktivistischen Bestreben, eine neue Realität sozial zu konstruieren. Ausgangspunkt internationaler Sicherheit ist das Streben nach Sicherheit, bei dem die Bemühungen eines Staates zur Erhöhung seiner eigenen Sicherheit die Sicherheit eines anderen Staates gefährden können. Diplomatie bedeutet, das gegenseitige Verständnis zu vertiefen und Kompromisse zu finden, um dieses Streben zu entschärfen.
Sozialkonstruktivisten halten Diplomatie häufig für problematisch, da sie ein Streben nach Sicherheit „legitimiere“, indem sie anerkenne, dass die NATO legitime russische Sicherheitsinteressen untergraben könne. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass Diplomatie den Gegner legitimiere und eine moralische Gleichsetzung westlicher Staaten mit Russland herstelle. Die europäischen Eliten befürchten, dass durch gegenseitiges Verständnis veraltete und gefährliche Konzepte der Machtpolitik salonfähig gemacht werden könnten. Die absurde Überzeugung, Verhandlungen seien gleichzusetzen mit „Appeasement“, hat sich in Europa zur Norm entwickelt.
Diplomatie wurde daher zu einer Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Lehrer und Schüler, umgedeutet. In dieser Konstellation sehen NATO und EU ihre Rolle in der „Sozialisierung“ anderer Staaten. Als zivilisierender Lehrer nutzt der aufgeklärte Westen Diplomatie als pädagogisches Instrument, bei dem Staaten für ihre Bereitschaft, einseitige Zugeständnisse zu akzeptieren, „belohnt“ oder andernfalls „bestraft“ werden. Während Diplomatie in Krisenzeiten historisch als unerlässlich galt, glauben europäische Eliten heute, man müsse stattdessen „schlechtes Verhalten“ sanktionieren – und die Diplomatie nach Ausbruch einer Krise aussetzen, da ein Zusammentreffen mit dem Gegner in solchen Momenten das Risiko berge, diesen zu legitimieren.
Neutralität galt bis vor Kurzem als moralische Haltung, mit der das Streben nach Sicherheit gemildert wurde, und die es einem Staat ermöglichte, als Vermittler zu agieren, anstatt sich in Konflikte verwickeln zu lassen und diese zu eskalieren. In einem Kampf zwischen Gut und Böse gilt Neutralität inzwischen jedoch als unmoralisch.
https://anti-spiegel.ru/2025/wie-realitaetsverweigerung-fuer-europaeische-eliten-zur-norm-wurde-und-was-die-folgen-sind