https://alt.vbg.net/ueber-uns/ressource ... sucht.html1. „Erfahrung ist alles. Alles ist Erfahrung“
Eine einfache Grundaussage: Die fruchtbaren Wege der Sehnsucht sind Wege des konkreten, weithin nüchternen, mühsamen und komplizierten Lebens. Darum findet die Spiritualität im praktischen Leben selbst statt und entwickelt sich vor allem darin.
Eine zweite Aussage: Ich bin der Überzeugung, das man auf die Wege der Sehnsucht und ins spirituelle Leben in dem Masse geführt wird, in dem man zu hören bereit ist, sich als Angerufener versteht und einem Ruf über sich selbst hinaus folgt.
Mein Anliegen
Mich drängt die Sorge, dass der Begriff der Spiritualität zunehmend verkommt. Dazu sehe ich drei Tendenzen.
Die erste Tendenz besteht darin, dass „Spiritualität“ derzeit einseitig vom Bedürfnis unserer strapazierten und gehetzten Zeitgenossen nach Entspannung, Ruhe und Ausgeglichenheit her definiert und angeboten wird. Spiritualität wird als Traumland angeboten, in dem aller Stress und alle Probleme des täglichen Lebens enden.
Kann es denn wahr sein, dass in einer Zeit, in der unsere Menschheit und unmittelbare Umgebung in einer vitalen Krise stecken und klare Unterscheidung, Stellungnahme und energisches Engagement angesagt wäre, auf spirituellem Gebiet vorwiegend geträumt, gesehnt, gekuschelt, getanzt, entspannt und das kleine Alltagsglück kultiviert wird? Dass also, nachdem die Religion in ihrer alten Form out ist, man „Spiritualität“ als neue Spielart des „Opiums fürs Volk“ anbietet und harmlose Zustände des wohltuenden Durchatmens, Entspannt- und Glücklichseins als „spirituelle Erfahrung“ etikettiert?
Echte spirituelle Erfahrung kosten den Einsatz des eigenen Lebens. Sie findet sich eher in der „Hölle“ des ganz normalen verrückten Alltags als im „Himmel“ der wohltuenden Entspannung. Man läuft einer Illusion nach, wenn man bei der spirituellen Suche das Leben ausklammert.
Heute wird einem gesagt, dass man das Vorgeschlagene nur zu wollen brauche, und dann funktioniere die Methode; in Wirklichkeit wollen viele Menschen wollen, aber sie können nicht wollen. Das wird aber ganz selten thematisiert.
Zudem wird unterstellt, jedem Menschen stehe der vorgeschlagene Weg offen, ob Gauner oder Idealist. Es gehe nur um die Übungen und die Frage, wer sie besser hinkriege.
Alle grossen Religionen setzten aber das Bemühen um eine recht anspruchsvolle Lebensmoral voraus. Heute ist das Reden von Spiritualität aber beliebter, wenn dabei nicht viel von moralischer Anstrengung gesprochen wird. Das gilt auch für Anstrengungen des Denkens. Oft bekommt man mit zwar guten Entspannungsanleitungen auch noch das Weltbild mitgeliefert, das sagt, die ganze Wirklichkeit sei göttlicher Natur. Woher die Autoren das wissen, sagen sie nicht. Diese Vorstellung breitet sich wie ein betäubender Nebel aus, der sich gut anfühlt, aber problematischer ist, als man denkt.
Auch die zweite Tendenz besteht darin, Spiritualität von der gelebten Existenz abzulösen. Hier dient sie aber nicht nur der Entspannung, sondern soll zu einem Erleuchtungs- oder Gipfelerlebnis führen. Kaum noch eigene Glaubensüberzeugungen vorweisend, weiss sich der moderne Mystiker aber mit allen Mystikern vereint. Spiritualität wir metaphysisches Vitamin, mentale Diät, Faktor einer umfassenden Selbstmedikation und Selbstmission. Künftig gehört transzendentale Fitness zum Selbstmanagement – und man findet heute überall Mittel, seine persönliche mystische Diät zusammenzustellen.
Inmitten der Massengesellschaft bildet sich so ein unsichtbarer Orden von Aristokraten des inneren Lebens.
Mystiker-Ökumene: Alle Religionen werden auf einen mystischen Kern reduziert. Das bietet den Vorzug, dass allen Formen dogmatischer Verkündigung der Boden entzogen wird; dies kommt dem Individualismus der Neuzeit entscheidend entgegen.
Mystische Erfahrungen dank Technik und Droge: Man destilliert den Erfahrungsaspekt der Mystik heraus, der gar nicht das Entscheidende ist, und lässt den Bezug zur Welt und zu den anderen Menschen unter den Tisch fallen. Es ist, wie wenn man aus einer Beziehung die reine „Liebe“ gewinnen will. Um dann eine Technik oder ein Medikament zu entwickeln, das diese Erfahrung herbeiführen könnte, so dass sich der Mensch jederzeit in den Erfahrungszustand „Liebe“ versetzen könnte. Das mag dann wohl erholsam sein, aber mit echter Liebe hat es nichts mehr zu tun.
Als dritte Tendenz kann man feststellen, dass mit recht dogmatischen Tönen ein neues (eigentlich altes) Weltbild verkündet wird. Sein Vorteil ist, dass es eine einfachere Lehre bietet, als sie das Christentum hat. Aber, ist die Welt einfach oder doch etwas komplizierter. Alles Wesentliche, was wir spirituell brauchen ist längst gesagt und sogar schon besser, als wir es sagen. Dennoch scheinen Millionen darauf zu warten, dass endlich die ultimative Schriftrolle ausgegraben wird. Auch in der Volksfrömmigkeit wuchert ein buntes Gewächs und erfreut sich das Exotische besonderer Beliebtheit.
5. Wie die Spiritualität weniger kompliziert geht, als gedacht
Meine Anregungen sind nicht für den Einstieg ins spirituelle Leben gedacht, sondern eher Hinweise, wie man sich darin am fruchtbarsten verhält.
1. Konzentriere dich nicht auf ein spirituelles Leben, sondern auf dein Leben. Entdecke dein spirituelles Leben darin.
Sobald du anfängst spirituelle Erfahrungen zu suchen und dich um sie zu bemühen, läufst du Gefahr, den Faden deines wirklichen Lebens zu verlieren. Vielleicht sind daher im Christentum keine ausgefeilten Meditationsmethoden entwickelt worden.
2. Versuche regelmässig, erinnernd den Faden in deinem eigenen Leben zu finden.
Ein Leben zu führen, bei dem man nur zusammenhanglos herumzappt, befriedigt nicht. Erst ein grösserer Zusammenhang hilft einen Sinn und Ziel zu erkennen. Erinnern heisst: Gewesenes sich innerlich bewusst aneignen, damit es bleibt und nachwirkt. Vielleicht hilft da ein Tagebuch, noch besser ist der Austausch mit anderen Menschen darüber. Was man ausspricht und teilt, wird wirklicher, wirkt länger nach.
Die entscheidenden Erfahrungen im Leben sind nicht die momentanen, sondern jene, die lange nachwirken.
Es liegt in der Natur des geheimnisvollen Gottes, dass er sich offenbart, indem er sich entzieht. Erst im Rückblick, in der Erinnerung, klärt sich, von welcher Qualität die Erfahrung war. Wer nie auf sein Leben zurückblickt, verpasst womöglich seine entscheidenden Erfahrungen. Oft sehen wir auch den Sinn von Brüchen etc. erst in der Rückschau.
3. Sei nicht so einfältig, dich um eine „Gotteserfahrung“ zu bemühen oder auch nur eine solche zu ersehenen.
Wenn du das suchst, dann hast du ein zu kleines Gottesbild, denn du würdest es nicht aushalten.
4. Aktiviere deine Fähigkeit zur Liebe, und zwar zu der Art Liebe, die sich engagiert und verschenkt. Scheue dich nicht, wenn es sein muss, dich unbeliebt oder dir die Hände schmutzig zu machen.
Es geht nicht um eine Liebeserfahrung, sondern um jene Liebe, von der Jesus in Mt 25 berichtet. Ihr habt euch um Hungrige, Dürstende etc gekümmert, und das habt ihr mir getan. Die Angesprochenen sind erstaunt. Sie hatten in ihrer Liebespraxis weder eine Gottes- noch eine Liebes-Erfahrung gesucht und auch keine gefunden. Diese engagierte und sich verzehrende Liebe weitet unsere Kapazität für die Liebe Gottes.
5. Habe die Zuversicht, dass du besonders nahe an der Erfahrung Gottes bist, wenn du überhaupt keine angenehmen Erfahrungen hast und du dir als schwacher, inkonsequenter Mensch vorkommst und darunter leidest.
Denn Jesus sagt, ein Reicher kommt nur schwer in den Himmel.
6. Richte dich darauf ein, oder richtiger: darauf aus, dass dir von dem, der dich unendlich übersteigt und dir zugleich innerlicher ist, als du selbst dir bist, etwas gesagt wird. Lebe deshalb in der Haltung des Hörens.
Dein Weltbild beeinflusst entscheidend, was du wahrnimmst. Wenn du von vornherein ein Weltbild hast, in dem ausgeschlossen wird, dass dir etwas gesagt werden könnte, hörst du auch nichts. Gott sendet nicht ständig, denn er ist kein Unterhaltungssender. Auch hat er uns schon fast alles gesagt. Er sendet keine unnötigen Worte, weil ihm Worte wichtig sind. Man muss sich auf seine Frequenz einstellen und lange Sendepausen in Kauf nehmen. Nun so kann man die Augenblicke mitbekommen, in denen ein Wort gesendet wird. Das wird heute aber erschwert, weil sich immer mehr Stör- und Piratensender im Äther tummeln. Zum Reden kann Gott so gut wie alle Medien benutzen. Wenn du das nicht glauben kannst, aber es glauben möchtest, dann verhalte dich einfach so als glaubtest du es, und horche.
7. Nimm dir die Bibel vor. Versuche aus ihr herauszuhören, was anderen vor dir bereits gesagt worden ist und analog auch für dich wichtig sein könnte. Versuche, zu hören, ob dir etwas gesagt wird.
Die Bibel ist das Protokoll von Lebenserfahrungen von Menschen, die an Gott geraten sind und das im Mass ihrer Möglichkeiten aufgezeichnet haben. Viele ihrer Sätze können uns heute noch wie eine direkte Anrede treffen, anderes kann uns abstossen. Das meiste ihrer einmalig inspirierten Power steht zwischen den Zeilen. Der Kern dieser Botschaft erschliesst sich einem nur, wenn man sich mit seiner ganzen Existenz in ein Gespräch und einen Erfahrungsaustausch mit dem Text einlässt.
8. Bete zu Gott, er möge dich in deinem Leben erleuchten, stärken und führen. Bete vor allem um die Erlösung der Welt von dem Bösen. Versuche, ständig mit Gott im Gespräch zu bleiben.
Viele machen die Erfahrung, dass sich das Gebet ständig vereinfacht. In der klassischen Tradition spricht man daher von den vier Stufen des Gebetes: Das mündliche Gebet (hier redet man, wie wenn man Telefoniert); das diskursive Gebet (= überlegte; Da wird es kürzer und konzentrierter); das affektive Gebet (hier wird ein tiefes Empfinden einfach vor Gott gebracht, vgl Röm 8,26); das kontemplative Gebet (hier hat man das Gefühl, alles Reden sei zu Ende. Man hält sich mit seinem ganzen Wesen einfach Gott hin wie eine leere Schüssel).
Wer viel betet, merkt mit der Zeit, dass es ihm immer schwerer fällt, und dass er sogar inneren Widerstand dagegen fühlt. Das obige Schema könnte da helfen, zu verstehen, was da vor sich geht. Man ist von einer sinnvollen Dynamik ergriffen. Alle diese Gebetsformen bedingen einander, auch wenn man vermutlich im Laufe des Lebens den obersten Stufen immer grösseren Vorrang gibt.