Dass es sich auf dem an der Donau gelegenen Berg gut leben ließ, wusste man bereits in der mittleren Bronzezeit um 1600 v. Chr. Der Fluss, der Ost- und Westeuropa verbindet, spielte sicher schon damals eine wichtige Rolle als Transportweg für Waren aller Art. Mit dem Einbaum oder Floß ging es einfach schneller voran als zu Fuß oder im Ochsenkarren. Um 1100 v. Chr. übernahm eine Siedlung auf dem 13 Kilometer von der Heuneburg entfernten Bussen die Führungsrolle in dieser Region, vermuten die Fachleute. Laut Krausse unterhielt sie gute Verbindungen zum Federsee und seinen zeitgleichen Pfahlbausiedlungen, schließlich lagen die in Sichtweite, nur zehn Kilometer entfernt. Ihre Einwohner standen schon seit Jahrhunderten mit weit entfernten Regionen in Handelskontakt. Denn der Federsee liegt auf der europäischen Wasserscheide zwischen Donau und Rhein, kleine Flüsse machten ihn in der Bronzezeit zur Drehscheibe des Fernhandels bis weit in den Mittelmeerraum hinein. Warum sollte sich das in der frühen Eisenzeit geändert haben?
Trotz dieser bevorzugten Lage verlor der Bussen aber wohl im Lauf des 7. oder 6. Jahrhunderts v. Chr. seine Bedeutung als Siedlungszentrum. Die Heuneburg wurde erneut bedeutender, wie ein Vergleich von Qualität und Zahl der Funde zeigt. Mehr noch lebte man in einer weiter vernetzten Welt als früher. Das verraten die aus filigranen Golddrähten meisterhaft gefertigten Ohrringe der Fürstin vom Bettelbühl, wie auch ihre kunstvollen Bernsteinfibeln. Ein etwa 40 Zentimeter langes, verziertes Bronzeblech gab den Forschenden Rätsel auf, bis ein Computertomogramm Reste einer eisernen Trense sichtbar machte. Krausse und die Restauratorin Nicole Ebinger sind sich sicher: Es handelt sich um einen Stirnpanzer für ein Pferd.
Ein solcher Kopfschutz war wie auch die Goldtechnik der Schmuckbeigaben einzigartig im süddeutschen Raum jener Zeit. Sie verweisen etwa zu den Kulturen im heutigen Slowenien oder Etrurien. Dass die Fürstin nicht von dort stammt, sondern zumindest ihre Kindertage in der Region Heuneburg verbracht hatte, bestätigen Isotopenmessungen am Zahnschmelz. Zudem verrieten Details der ungewöhnlichen Artefakte trotz ihrer fremdländischen Ausstattung den Einfluss lokaler Traditionen. Schmuck und Stirnpanzer gelten deshalb nicht als Importe, sondern als Produkte einer Werkstatt vor Ort – die allerdings über ein Wissen verfügte, das andere frühkeltische Zentren nicht besaßen.
Vor demselben Rätsel stehen die Landesarchäologinnen und -archäologen auch angesichts der Verteidigungsanlage rund um die Oberstadt der Siedlung, die so genannte Akropolis. Ohne Not hatten die Einwohner hier eine traditionelle Kastenmauer abgerissen und durch eine mehrere Meter dicke Wand aus luftgetrockneten Lehmziegeln ersetzt. Das geschah ab etwa 600 v. Chr. – also zu Lebzeiten der Fürstin vom Bettelbühl. Auf der für Angreifer leichter zugänglichen, der Donau abgewandten Seite ragten etliche Türme wie Verteidigungsbastionen heraus. Vermutlich schützte ein Kalkanstrich das Bauwerk vor Regen – und ließ es weit über das Land leuchten. Dergleichen kannte man damals aber nicht einmal in Slowenien oder Etrurien, sondern allenfalls auf Sizilien und im Orient.
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Die Lehmziegelmauer erinnerte Althistoriker an eine Notiz Herodots, der Mitte des 5. Jahrhunderts schrieb: »Der Istros entspringt bei den Kelten und der Polis Pyrene und fließt mitten durch Europa.« Der Istros, das war die Donau, als Polis bezeichneten die Griechen urbane Gebilde. Zwar liegt die Donauquelle gut 80 Kilometer von der Heuneburg entfernt, aber solche Unschärfen könnten sich eingeschlichen haben, da sich Herodot auf Hörensagen verlassen musste. Nannten die Griechen die Burg und ihr Umland also Pyrene?
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In einem Punkt scheint sich die Heuneburg der Lehmziegelzeit obendrein von eventuellen Vorbildern der Mittelmeerkulturen deutlich zu unterscheiden, und der irritiert nicht minder: In der Akropolis, immerhin mehr als drei Hektar groß, kamen bislang keinerlei Großbauten zu Tage. Kein Tempel, kein Fürstensitz, nur Werkstätten. Ein ähnliches Bild liefert die etwa halb so große Vorburg. Die war zwar nur von einer Palisade und einem Graben geschützt, dafür aber regelte ein gewaltiger Torbau den Zugang, 16 Meter lang und 10 Meter breit. Um die Wissenschaftler vollständig zu verwirren, stand in der »Außensiedlung« vor diesem großen Tor ein Großbau von 400 Quadratmetern, dessen Aufteilung Etruskologen an zeitgleiche Herrenhöfe in Italien erinnert.
Also eine Akropolis nur für Handwerker? Eine Lehmziegelmauer zum Schutz der Schmiede und Töpfer? »Möglicherweise liegen noch Repräsentationsbauten in den unerforschten zwei Dritteln der Akropolis verborgen«, sagt Krausse. »Doch es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt: Das Allerheiligste der Heuneburg-Gesamtsiedlung war in jener Blütezeit tatsächlich ihr Wirtschaftszentrum, und die Elite lebte außerhalb.«
Diese Angehörigen der Oberschicht stellt sich Krausse als Großbauern vor, die sich mit einfacheren Landwirten die Außensiedlung teilten – nach aktuellen Schätzungen lebten hier insgesamt 3000 bis 5000 Menschen auf sage und schreibe einem Quadratkilometer Fläche. Was davon bislang ergraben wurde, zeigte kleine und große Gehöfte, die sich voneinander durch Gräben und Palisaden abgrenzten. »Die Leute hatten bis dahin in Weilern und Einzelgehöften gelebt«, erklärt sich Krausse die auf Binnenverteidigung ausgerichtete Struktur. »Mit dem Fernhandel über die Donau gewann die Heuneburg an Attraktivität, es herrschte eine Art Goldgräberstimmung, aber diese Enge war man einfach nicht gewohnt.«
Eine Kultstätte auf der Akropolis, wie man sie von Athen, aber auch von anderen Siedlungen jener Zeit kennt, war vielleicht gar nicht erforderlich. Seit etwa um 800 v. Chr. existierte dergleichen gut neun Kilometer nordwestlich der Heuneburg auf einem markanten Geländesporn: die »Alte Burg«. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des LAD graben dort seit 2014 und brachte Erstaunliches zu Tage. Vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr., während andernorts ein paar Dörfer zu dem verschmolzen, was einmal Rom werden sollte, und Homer seine »Ilias« schrieb, trugen die Kelten den Felsen ab oder erweiterten ihn mit Stützmauern und Füllmaterial. Das Ergebnis war ein planes, gut zwei Hektar großes Oval, ergänzt um je eine tiefer liegende Terrasse an den Längsseiten. Eine 13 Meter dicke und mindestens 10 Meter hohe Mauer kontrollierte den Zugang zur Anlage, davor erstreckten sich aufgeschüttete Wälle und ein mehrere Meter tiefer Graben.
Gewohnt wurde dort oben nicht. Skelettreste in einem Schacht lassen vermuten, dass die Alte Burg eine zentrale Kultstätte war, eingebunden in den Heuneburg-Großraum, zu dem außer dem Bussen noch mehrere bislang weniger gut erforschte Siedlungen und Nekropolen gehörten.
Doch weshalb war die Alte Burg so groß? Warum das lang gestreckte Oval? Wieder gehen die Vergleiche in den mediterranen Raum. In Etrurien und Griechenland entstanden in jener Zeit Pferderennbahnen, auf denen man zu Ehren der Götter miteinander die Kräfte maß. Davon künden schriftliche und bildliche Überlieferungen. Der älteste Bericht findet sich in der »Ilias«: Achilles veranstaltete zu Ehren seines im Kampf gefallenen Freundes Patroklos ein Wagenrennen. Auch in Olympia gab es ein Hippodrom, zwei »Stadien«, also etwa 384,5 Meter lang, was zu den 340 Metern der Alten Burg nicht schlecht passt. Doch archäologisch ließen sich bislang nur wenige solcher Stätten nachweisen, und die sind allesamt viel jünger. Befindet sich also die älteste Ruine einer Wagenrennbahn ausgerechnet am Südrand der Schwäbischen Alb?
https://www.spektrum.de/news/heuneburg- ... hl/1960420