Andreas Tenzer hat geschrieben:Das Positive Denken ist zukunftsorientiert, während das Gewahrsein auf die Gegenwart ausgerichtet ist. Die Weiche, an der sich entscheidet, wohin der Zug fährt, trägt den Namen Negativität. Beim Positiven Denken geht es stets darum, etwas das als negativ eingeschätzt wird, suggestiv in etwas Positives zu verwandeln. So kann ich etwa, wenn ich arm bin, Reichtum oder wenn ich krank bin, Gesundheit visualisieren. Das ist sicher besser, als umgekehrt vorzugehen, also negativ zu denken.
Der Begriff des Positiven Denkens beinhaltet aber zwei Schwachstellen, nämlich positiv und denken. Er setzt voraus, dass unser Denken jederzeit weiß, was positiv und was negativ ist. Insofern basiert dieses auf einer festgelegten Grundeinteilung der Welt in gut und schlecht.
Es scheint eine starke Triebkraft im Menschen zu geben, die eher darauf aus ist, sich die Dinge untertan zu machen, als sie zu verstehen. Das vom lateinischen subicere = unterwerfen abgeleitete Substantiv Subjekt macht dies deutlich: Subjekt sein heißt versuchen, sich die Objekte untertan zu machen. Es interessiert sich nicht dafür, was die Dinge an sich sind, sondern hat nur im Auge, was sie für es sein könnten. Gewahrsein ist also ein Bewusstsein jenseits der Dualität von Subjekt und Objekt.
Sich von der Vorstellung zu befreien, ein Subjekt zu sein, kann Angst machen, besonders wenn man befürchtet, dadurch seine Identität zu verlieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass Individualität nur dort entsteht, wo alles Subjektive freiwillig aufgegeben wird. Subjekte sind fast beliebig austauschbar. Dadurch dass alles Existierende für sie nur unter dem Aspekt betrachtet wird, ob es als Beute geeignet ist, unterscheiden sich Subjekte nur in der Technik der Ausbeutung und der Vorliebe für bestimmte Objekte. Alles an den Dingen, was über die Qualität Nützlich-für-mich hinausgeht, liegt außerhalb des Wahrnehmungsfeldes. Ein Individuum zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass es Individuelles in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen kann.
Auf die bloße Einverleibung von Gegenständen und die Instrumentalisierung von Personen zu verzichten, bedeutet nicht, dass man an ihnen kein Interesse haben dürfte, denn dann wäre das eigene Leben uninteressant. Entscheidend ist allein wie ich mein Interesse zur Geltung bringe. Anders als bei der subjektiven Unterwerfung der Objekte ist das individuelle Bewusstsein im Akt des Gewahrwerdens einfach nur bei der Sache, ganz im Sinne der lateinischen Bedeutung von interesse = dabei sein. Der Gegenstand des Interesses ist dabei nicht ein bloß Zuhandenes, sondern ein als gleichwertig respektierter Mitspieler. Die dritte Definition lautet deshalb:
3. Gewahrsein bedeutet, alles Wahrgenommene in seiner einzigartigen Individualität zu respektieren.
Hier drängt sich die Frage auf, ob das auch für Subjekte und Objekte gilt, die sich uns feindlich in den Weg stellen oder lästige Hindernisse darstellen. Es ist ein elementares Kennzeichen des Gewahrseins, dass es die Inhalte seines Bewusstseins nicht in gut und böse aufsplittet. Dennoch registriert es in jedem Augenblick, was die spezifische Kommunikation mit Gegenständen oder Personen mit dem eigenen Körper-Geist-Seele-System macht. Im Eigeninteresse wie auch im Interesse aller an einer Interaktion Beteiligten versucht es intuitiv, schädliche Situationen zu meiden und förderlichen gegenüber offen zu sein. Ein hoch entwickeltes Gewahrsein kann dabei auch unterscheiden, inwieweit wahrgenommene Destruktivität von der eigenen Person oder vom Kommunikationspartner ausgeht.
Angenommen, jemand bekommt nach dem Zusammensein mit einer bestimmten Person regelmäßig Migräneanfälle, dann wäre es hilfreich, den Hauptauslösefaktor zu orten. Vielleicht stinkt der Kommunikationspartner, ist arrogant, besserwisserisch, kränkend, aufdringlich usw. Wird jener in der ein oder anderen Form wahrgenommen, dann checkt das System des "Migräneopfers" automatisch, wie hoch der Eigenanteil an den registrierten Widrigkeiten ist. Im Falle einer Kränkung zum Beispiel wird geprüft, ob es in einem selbst etwas Krankes gibt, das mit dem als Kränkung empfundenen Verhalten des anderen in Resonanz getreten ist.
Wird der gewahrseiende Partner bei sich fündig, dann ist er dem "kränkenden" Gegenüber dankbar für die Enttarnung eines bisher unbewussten eigenen Defizits und wird mit dessen Aufarbeitung beginnen. Sollte aber keinem migräneauslösenden Faktor ein inneres Resonanzfeld zugeordnet werden können, stellt sich immer noch die Frage: Warum setze ich mich fortwährend einer Negativität aus, die mich beschädigt, ohne dass damit wenigstens ein kompensierender Lerneffekt einhergeht?
Mögliche Antworten darauf könnten sein: existenzielle Abhängigkeit vom Anderen, falsches Mitleid oder Verantwortungsgefühl, nicht Nein-Sagen-Können usw. Sind die tatsächlichen Auslösefaktoren wirklich gewahr geworden, wird die betreffende Person auch über die notwendige Entschlusskraft verfügen, um die schädlichen Situationen zukünftig zu meiden. Hieraus ergibt sich die vierte Definition:
4. Das Gewahrsein registriert jederzeit sowohl die eigenen Handlungsimpulse als auch die derjenigen, mit denen es interagiert.
Man könnte meinen, dass es für den "Täter" förderlich wäre, wenn das "Opfer" sich dauerhaft in seine Rolle fügen würde. In Wirklichkeit gibt es aber weder Täter noch Opfer, sondern allein einen Kommunikationsprozess, der für die daran beteiligten Personen mehr oder weniger förderlich bzw. schädlich ist. Wer aber tatsächlich stinkt, arrogant und aufdringlich ist, der braucht nichts mehr als jemanden, der seiner meist unbewussten Negativität Widerstand bietet und ihm so notwendige Lern- und Entwicklungsschritte ermöglicht.
Die vierte Definition lässt zwei entscheidende Fragen unbeantwortet:
1. Wie kann ich mir sicher sein, dass die von mir registrierten Denkmuster und Handlungsimpulse meiner Kommunikationspartner nicht meine eigenen Projektionen sind? Der beste Schutz gegen Projektionen ist an dieser Stelle die Gewissheit, dass man sich nie ganz sicher sein kann. Deshalb sollte man alle diesbezüglichen Prognosen generell unter Projektionsverdacht stellen. Und selbst wenn die Prognosen sich immer wieder bestätigen, könnten sie eine sogenannte self-fulfilling prophecy sein, das heißt, dass der andere sich so verhält, wie ich ihn einschätze, weil ich ihn so einschätze. Bei einem hohen Gewahrsein wird dieses Problem dadurch gelöst, dass aktive eigene Projektions-Aktivitäten wahrgenommen und dadurch in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden.
2. Woher weiß ich, was kurz- mittel oder langfristig nützlich bzw. schädlich ist? Beim Gewahrsein geht es weniger um Wissen als um Spüren, mehr um Intuition als um Kognition. Das hängt damit zusammen, dass es weder Gedanken noch Ereignisse gibt, die keine Spuren in unserem Körper-Geist-Seele-System hinterlassen, das ich ab jetzt der Einfachheit halber Gesamtsystem nennen werde. Der Verstand ist ein integraler, notwendiger aber nicht hinreichender Bestandteil dieses Gesamtsystems, wie die beiden folgenden Beispiele verdeutlichen.
Wir brauchen nur an ein leckeres Essen zu denken, und schon läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Wir brauchen nur an eine wichtige Prüfung oder Besprechung zu denken, der wir nicht gewachsen zu sein glauben, und schon stockt uns der Atem, rotieren unsere Gedanken, breitet sich Angst aus. Sind wir dieser Prozesse nicht voll gewahr, dann wird unser Gesamtsystem versuchen, uns mit suboptimalen Kompensationshandlungen provisorisch aus der Patsche zu helfen, wie zum Beispiel durch Verdrängung, Ablenkung oder Krankheit. Der spürbewusste Mensch registriert dagegen unmittelbar, wenn in einem Teil des Gesamtsystems eine Blockade ausgelöst wird, im Idealfall sogar schon dann, wenn eine solche droht. Hohes Gewahrsein impliziert nämlich ein Frühwarnsystem, das sofort Alarm schlägt, wenn dem Gesamtsystem Schaden droht. Dies erinnert an die eingangs zitierten Worte aus dem Tao teking: Handle, bevor die Dinge da sind. Ordne sie, bevor die Verwirrung beginnt.